"Was bedeutet eine (Lippen-, Kiefer-) Gaumenspalte für die Sprech- und Sprachentwicklung meines Kindes?"

 

Während der Embryonalzeit formen sich in der 5.-6. Woche der Oberkiefer und die Oberlippe, in der 8.-9. Woche der harte und der weiche Gaumen. Dabei werden Lippe, Kiefer und der vordere Teil des harten Gaumens aus anderen Geweben gebildet, als der hintere Teil des harten Gaumens und der weiche Gaumen. Unterbleibt die regelrechte Entwicklung, können Lippen- Kiefer- Gaumenspalten entstehen. Dabei können Spalten der Lippe und des Kiefers links-, rechts- oder beidseitig auftreten, Spalten des hinteren Hartgaumens und des Weichgaumens liegen jedoch stets in der Mittellinie.

Die Ausprägungsgrade reichen von der einseitigen, isolierten Lippenspalte bis hin zur doppelseitigen Lippen- Kiefer- Gaumenspalte, beim Weichgaumen von der Furche im Zäpfchen über die doppelte Anlage des Zäpfchens bis zur kompletten Gaumenspalte. Von besonderer Bedeutung sind die "submukösen" Gaumenspalten, bei denen der knöcherne Gaumen gespalten, die darüberliegende Schleimhaut aber geschlossen ist.

Wie entstehen Spaltbildungen? Lippen- Kiefer- Gaumenspalten werden in bis zu 40% der Fälle vererbt (meist rezessiver Erbgang), man vermutet aber zusätzliche Faktoren, die bei der Entstehung der Spalte eine Rolle spielen sollen. Lippen- Kiefer- Gaumenspalten können auch im Rahmen eines Syndroms auftreten. Schreckreaktionen während der Schwangerschaft, banale Erkrankungen oder Bagatelltraumen sowie die meisten Medikamente sind keine Erklärung für eine Spalte.

Wie werden Spaltebildungen behandelt? Die Therapie der Patienten mit Lippen- Kiefer- Gaumenspalten findet meist in einem interdisziplinären Team statt, in dem Vertreter der Fächer Kieferchirurgie, Kieferorthopädie, HNO-Heilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie, Kinderheilkunde und Logopädie zusammenarbeiten.

Direkt nach der Geburt wird eine Trinkplatte angefertigt, die mit dem weiteren Wachstum des Kindes regelmässig angepasst und erneuert werden muss. Der operative Verschluss der Lippen geschieht meist bis zum 6. Lebensmonat, der Verschluss des Weichgaumens mit 12-14 Monaten. Der Zeitpunkt des Hartgaumenverschlusses ist unterschiedlich. Parallel dazu werden die allgemeine Entwicklung des Kindes, die Sprachentwicklung und das Hörvermögen des Kindes regelmässig kontrolliert und ggfs. therapiert.

Wie wirken sich Spaltbildungen aus?
Ernährung: Um zu verhindern, dass Nahrung in die Nase gelangt, wird eine Gaumenplatte ("Trinkplatte") angefertigt, die den Mund- vom Nasenraum trennt. Viele Kinder mit Lippen- Kiefer- Gaumenspalten können nicht gestillt werden, so dass die Muttermilch abgepumpt und per Fläschchen gegeben werden sollte.
Sprache/Stimme: Bei einer isolierten Lippenspalte, die ja mit Beginn der Sprachentwicklung bereits verschlossen ist, sind die Auswirkungen auf die Sprache gering. Bei einer Kiefer- Gaumenspalte entweicht beim Sprechen Luft aus der Nase, das Kind zeigt ein offenes Näseln. Versucht das Kind nun zu sprechen, fehlen ihm im Mund und Rachen wichtige Strukturen für die Lautbildung. So kann sich beispielsweise die Zunge nicht an den Gaumen heranlegen, oder der Gaumen kann beim Bilden der Verschlusslaute [b] oder [p] keinen Verschluss zum Nasenrachen bilden. Oftmals verläuft die Sprachentwicklung beim Kind mit Lippen- Kiefer Gaumenspalte verzögert (Beginn 18.-24. Lebensmonat). Hierbei spielen natürlich auch alle anderen Faktoren eine Rolle, die den Spracherwerb beeinflussen, wie z. B. die allgemeine Entwicklung, die Sprachbegabung, das Sprachvorbild der Eltern, ganz besonders aber das
Hörvermögen: Wegen der veränderten Anatomie im Rachenbereich ist die Belüftung des Mittelohres über die Ohrtrompete häufig eingeschränkt. Es kommt zur Sekretansammlung im Mittelohr, dem Paukenerguss mit einer gering- bis mittelgradigen Schwerhörigkeit. In der Folge können auch immer wieder Mittelohrentzündungen auftreten. Um das Mittelohr wieder richtig zu belüften, können Paukenröhrchen eingelegt werden. Im Verlauf sind daher regelmässige Kontrollen beim Pädaudiologen äusserst wichtig.
Psychosoziale Entwicklung: Der körperliche "Defekt" eines Neugeborenen kann bei den Eltern und dem sozialen Umfeld unterschiedliche Reaktionen auslösen, die von Enttäuschung über Schuld bis zur Ablehnung reichen können. Das Kind selbst erlebt seinen "Defekt" erst im Umgang mit anderen Menschen und im Vergleich zu anderen Kindern. Eltern und Kind müssen lernen, mit der oft nicht liebenswürdigen Umwelt umzugehen. Je geborgener sich das Kind aber in seiner Familie aufgehoben weiss und je emotional stabiler das Kind aufwächst, desto selbstbewusster wird es im Umgang mit gleichaltrigen und Erwachsenen.

 

Priv.-Doz. Dr. Eberhard Seifert, Ärztlicher Leiter Phoniatrie, Universitätsklinik für HNO, Hals-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Inselspital, CH-3010 Bern
eberhard.seifert@insel.ch

 

 

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