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Was
weiß man heute über Stottern und dessen Behandlung?
Rund 5% aller Kinder im Vorschulalter durchlaufen eine so ausgeprägte
Entwicklungsphase unflüssigen Sprechens, dass die Diagnose ‘Stottern’
gerechtfertigt ist. Ca. 20% dieser stotternden Kinder behalten ihr Sprechproblem
bis ins Erwachsenenalter. Die psychosoziale Entwicklung beim chronifizierten
Stottern ist häufig durch eine langwierige Auseinandersetzung mit
dem Stottern, durch vielfältige Versuche der Selbsthilfe und Problembewältigung
mit Hilfe von Experten gekennzeichnet. Die Unterschiedlichkeit des Störungsbildes,
der Störungsgeschichten und Verläufe weist darauf hin, daß
es den typischen Stotterer nicht gibt. Dies ergibt sich auch aus der in
Fachkreisen inzwischen als selbstverständlich betrachteten Sichtweise
des chronifizierten Stotterns als Folge eines jeweils individuellen und
über den zeitlichen Verlauf sich verändernden Zusammenwirkens
vielfältiger verursachender, auslösender und aufrechterhaltender
Faktoren.
Symptomatik
Über die Symptombeschreibung des Stotterns herrscht weitgehend Einigkeit.
Auf der von außen beobachtbaren Ebene des Sprechverhaltens äußert
sich das Stottern in folgenden typischen Unterbrechungen des Redeflusses:
- Wiederholungen von Lauten, Wortteilen und Wörtern,
- Dehnungen einzelner Laute,
- stimmhafte und stimmlose Blockierungen des Sprechflusses,
- Einschiebungen von Lauten, Wörtern, Satzteilen.
Blockierungen und Dehnungen sind meist von Verkrampfungen der Sprechmuskulatur
begleitet (spannungsvolles Stottern). Wiederholungen und Einschiebungen
sind dagegen weitgehend spannungsfreie Unterbrechungen des Redeflusses.
Neben der qualitativen Symptombeschreibung ist auch die Intensität
des Auftretens einzelner Symptome wie zum Beispiel die Häufigkeit
von Wiederholungen, Dauer der Dehnungen und Blockierungen zu beachten.
Im Einzelfall können die qualitativen und quantitativen Aspekte der
Grundsymptomatik sehr heterogen in Erscheinung treten. Nach einem längeren
Verlauf des Stotterns können zur oben beschriebenen Grundsymptomatik
Verhaltensauffälligkeiten in folgenden Bereichen hinzutreten oder
diese auch vollständig ersetzen bzw. verdecken:
- motorische Ebene (z.B. Mitbewegungen, ungünstige Sprechatmung und
Sprechtechnik),
- linguistische Ebene (z.B. sprachliches Vermeidungsverhalten),
- soziale Ebene (z.B. sozialer Rückzug/Vermeidung, Vermeidung des
Blickkontakts).
Die Verhaltensauffälligkeiten stehen in enger Beziehung zu den individuell
sehr unterschiedlich ausgeprägten und kombinierten kognitiv-emotionalen
Anteilen der Störung:
- Antizipation von Sprechproblemen: manche Stotterer können sehr
gut vorhersagen, in welchen Situationen oder bei welchen linguistischen
Merkmalen es zu Sprechschwierigkeiten kommt;
- Sprechängste: an problematische Situationen und Sprechpassagen
gebundene Ängste;
- Selbstwertprobleme: z.B. das Gefühl ein Versager zu sein, Gefühl
der Hilflosigkeit, Gefühl der Unterlegenheit;
- ungünstiges Selbstkonzept: Einengung der Wahrnehmung auf die Sprechproblematik,
in Sprechsituationen wird der Gesprächspartner wenig beachtet, Denken
und Fühlen drehen sich um die eigenen Sprechprobleme, sich selbst
nur noch als ‘Stotterer’ sehen und erleben.
Oft ist die soziale Situation des Stotterers durch einen starken sozialen
Rückzug und damit einhergehenden sozialen Kompetenzdefiziten und
Sozialängsten gekennzeichnet. Infolge des Stotterns kommt es häufig
zu Beeinträchtigungen der persönlichen und beruflichen Selbstverwirklichung.
Mit dieser (nicht vollständigen) Aufzählung der vielfältigen
Äußerungformen des Stotterns wird deutlich, wie vielschichtig
und komplex sich das Sprechproblem ‘Stottern’ darstellen kann.
Im Einzelfall können daher die Problemebenen und therapeutischen
Hilfestellungen sehr unterschiedlich sein.
Diagnostik
Differentialdiagnostisch ist zunächst ein Ausschluß anderer
Störungen der Rede wie Poltern, Mutismus und Redeflußstörungen
mit neurologischem (z.B. Stottern nach Schlaganfall) oder psychopathologischem
Hintergrund (z.B. Stottern im Rahmen einer depressiven Episode) notwendig.
Zur therapievorbereitenden Diagnostik ist eine Problem- und Bedingungsanalyse
vorzunehmen, die der multifaktoriellen Sichtweise des Stotterns gerecht
wird. Dazu ist es nötig, die Stottersymptomatik auf der Verhaltens-
und kognitiv-emotionalen Ebene zu explorieren. Die verursachenden (z.B.
Heredität, Störung der Sprechmotorik), auslösenden (z.B.
Streß, schwierige Sprechsituationen, ungünstiges Kommunikationsverhalten
in der Familie, Entwicklungsdefizite, Überforderung) und aufrechterhaltenden
(z.B. Vermeidungsverhalten, soziale Kompetenzdefizite, Selbstkonzept,
Therapiemotivation, ungünstige soziale Situation) Faktoren sind herauszuarbeiten.
Therapie
Hier besteht die große Schwierigkeit, aus der Vielzahl möglicher
Therapiestrategien diejenigen auszuwählen und gegebenenfalls zu modifizieren,
die der individuellen Problemlage des jeweiligen Stotterers gerecht werden.
So stellt sich die Frage, ob ein reines Sprechtraining (z.B. prolongiertes
Sprechen), ein Vorgehen, das auf die kognitiv-emotionalen Anteile abzielt
(z.B. Verfahren der kognitiven Umstrukturierung, Desensibilisierung),
oder eine Behandlung der Sozialstörung (z. B. Training sozialer Kompetenz)
notwendig ist. Häufig ist insbesondere beim chronischen Stottern
ein mehrdimensionales Vorgehen angezeigt. Eine differentielle Indikation
bedarf der oben angeführten differenzierten Problem- und Bedingungsanalyse.
Nur aus dieser Analyse können sinnvolle Therapieschritte abgeleitet
werden.
Weitere wichtige Therapieziele
sind
- die Aufklärung und Information des Patienten und/oder dessen Familie
über das Sprechproblem,
- die Vorbereitung des Patienten auf mögliche Rückfälle
und deren Bewältigung,
- Selbstorganisation der Betroffenen.
Aktuelle deutschsprachige Literatur
P. Fiedler, R. Standop: Stottern. Ätioloige, Diagnose, Behandlung.
Psychologie-Verlags-Union, München, 1992.
H. Schulze, H.S. Johannsen: Stottern bei Kindern im Vorschulalter. Theorie
- Diagnostik - Therapie. Verlag Phoniatrische Ambulanz der Universität
Ulm, 1986.
H. S. Johannsen, H. Schulze (Hrsg.): Praxis der Beratung und Therapie
bei kindlichem Stottern. - Werkstattbericht -. Verlag Phoniatrische Ambulanz
der Universität Ulm, 1993.
H. S. Johannsen, L. Springer: Stottern. Phoniatreische Ambulanz der Universität
Ulm, 1993
U. Natke: Stottern. Erkenttnisse, Theorien, Behandlungsmethoden. Huber,
Bern, 2000.
W. Wendlandt. Non-Avoidance-Prinzipien in der Therapie des Stottern. In:
M. Grohnfeldt (Hrsg.): Störungen der Redefähigkeit. Handbuch
der Sprachtherapie, Bd.5. Edition Marhold, Berlin, 1992, 425-445.
Links
Deutschland: Bundesvereinigung der Stotterselbsthilfe, http://www.bvss.de/,
info@bvss.de
USA: Homepage von Judith Kuster & John C. Harrison, National Stuttering
Association. http://www.mankato.msus.edu/dept/comdis/kuster/stutter.html
Australien: Australian Stuttering Research Centre, http://www.cchs.usyd.edu.au/ASRC//
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